Am 25. Juli 2022, genau ein Jahr nach der Suspendierung des tunesischen Parlaments und dem Beginn des politischen Übergangs, trat Tunesien in eine neue politische Phase ein, als die von Präsident Kais Saied vorgeschlagene Verfassung in einem Referendum angenommen wurde. Die neue Verfassung trat offiziell am 18. August in Kraft und führte ein stärker präsidiales Regime und ein Zweikammersystem ein. Präsident Saied ernannte Najla Bouden Romdhane Ende September 2022 zur neuen Premierministerin. Sie ist die erste Frau in diesem Amt in Tunesien. Am 15. September 2022 wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet, und der nächste Schritt sind die vom Präsidenten im Dezember 2021 angekündigten Parlamentswahlen für den 17. Dezember 2022.

Während beim politischen Übergang zu einem offenen, demokratischen Regierungssystem wichtige Fortschritte erzielt wurden, hat der Wirtschaftsumbau nicht Schritt gehalten. Die Wirtschaftsleistung Tunesiens hat sich nach der Revolution von 2011 verlangsamt, was zu einem verlorenen Wachstumsjahrzehnt führte, das durch die COVID-19-Pandemie 2020 noch verschärft wurde. Das BIP-Wachstum ging zwischen 2011 und 2019 im Jahresdurchschnitt auf 1,7 % zurück. Als Folge einer übermäßigen Regulierung der Wirtschaftstätigkeit, einer geringeren internationalen Handelsorientierung, niedriger Investitionen und begrenzter Innovation, war ein erheblicher Rückgang des Produktivitätswachstums zu verzeichnen. Die wirtschaftlichen Aussichten Tunesiens sind nach wie vor äußerst unsicher. Der wirtschaftliche Aufschwung im Jahr 2021 war relativ moderat. Die Sorge um die Schuldentragfähigkeit blieb aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bestehen. Zur Beschleunigung des Aufschwungs und zur Gewährleistung der makroökonomischen Stabilität müssen Strukturreformen zügig umgesetzt werden.

Erholung der Wirtschaft schreitet langsam voran

Nach Angaben der Weltbank wuchs das BIP 2021 um schätzungsweise 2,9 %, was der erfolgreichen Eindämmung der COVID-19-Pandemie ab dem zweiten Halbjahr und der verstärkten Impfung der Bürger, die eine Lockerung der Mobilitätsbeschränkungen im ganzen Land ermöglichten, geschuldet war. Angesichts des starken BIP-Rückgangs von 9,2 % im Jahr 2020, dem stärksten in der MENA-Region, war der wirtschaftliche Aufschwung aber relativ bescheiden. Das Wachstum wird 2022 voraussichtlich 3,0 % erreichen, unterstützt durch eine allmähliche globale Erholung von der Pandemie. Mittelfristig bleibt es mit etwa 3,5 % unter den ökonomischen Erfordernissen, belastet durch bereits bestehende strukturelle Schwächen und die sich aus der russischen Invasion in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen ergebenden Unsicherheiten. Weitere Schlüsselfaktoren für die eher bescheidene Erholung gehören die hohe Abhängigkeit der Wirtschaft vom Tourismus sowie der begrenzte fiskalische Spielraum und das schwierige Geschäftsumfeld, einschließlich der Beschränkungen für Investitionen und Wettbewerb. Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt blieben begrenzt. Die Arbeitslosenquote erreichte 18,4 % im 3. Quartal 2021 verbunden mit einem leichten Rückgang der Erwerbsbeteiligung. Die Arbeitslosenquote ist besonders hoch bei Jugendlichen, Frauen und im Westen des Landes.

Das Haushaltsdefizit verringerte sich von 9,4 % des BIP 2020 auf schätzungsweise 7,7 % des BIP im Jahr 2021. Ausgabensteigerungen im Zusammenhang mit der Erhöhung der Subventionen (insbesondere Energie) und der Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst konnten trotz des Zuwachses bei den Einnahmen, hauptsächlich aus indirekten Steuern, nicht ausgeglichen werden. Ungeachtet einiger Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung, einschließlich zweier Runden von Kraftstoffpreiserhöhungen im Februar und März 2022, beziffert die Weltbank das Haushaltsdefizit für 2022 mit 6,3 % des BIP. Das Defizit wurde durch eine Kombination aus Umschuldung und Tilgung von Schulden finanziert. Die Inflation stieg auf 6,5 % im Jahr 2021, einen ganzen Prozentpunkt über dem Wert von 2020, bedingt durch die steigenden Rohstoffpreise und die wieder anziehende Inlandsnachfrage. Der Inflationsdruck wird die weitere Entschuldung erschweren.

Das Leistungsbilanzdefizit lag 2021 bei 6,5 % des BIP, eine leichte Verschlechterung gegenüber 6,1 % im Jahr 2020. Dies resultierte aus dem wachsenden Handelsdefizit, da die Importe stärker stiegen als die Exporte, was etwas durch einen Anstieg des Primäreinkommens, hauptsächlich Überweisungen aus dem Ausland, kompensiert wurde. Der starke Anstieg der Importe wurde angetrieben durch das Wachstum der Inlandsnachfrage in Verbindung mit dem Anstieg der öffentlichen Ausgaben und der Exporte. Getrieben durch die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise wird den Weltbankprojektionen zufolge das Defizit der Leistungsbilanz auch 2022 weiter auf 7,6 % des BIP ansteigen.

Bedeutungsvoll für die Stabilisierung der aktuellen Wirtschaftssituation ist die Tatsache, dass die tunesischen Behörden und ein IWF-Stabsteam im Oktober dieses Jahres eine Einigung über die künftige Wirtschaftspolitik und die dazu gehörenden Reformen erzielt haben, die in einer neuen 48-monatigen Erweiterten Fondsfazilität (EFF) mit einem beantragten Zugang von etwa 1,9 Mrd. US-Dollar besteht. Wie immer bedarf diese Vereinbarung der endgültigen Zustimmung des IWF- Exekutivdirektoriums, das den tunesischen Programmantrag voraussichtlich im Dezember 2022 beraten wird. In der IWF-Presseerklärung heißt es dazu, dass die neue EFF-Vereinbarung das Wirtschaftsreformprogramm der Regierung unterstützen wird, um die außenwirtschaftliche und finanzpolitische Stabilität Tunesiens wieder herzustellen, den sozialen Schutz zu verbessern und ein höheres, grüneres und integratives Wachstum sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Privatsektor zu fördern.

Infrastruktur und Energiesektor bilden Investitionsschwerpunkte

Die tunesischen Behörden haben zur Förderung des Interesses ausländischer und inländischer Investoren in der jüngsten Vergangenheit ein ehrgeiziges Projektportfolio aufgelegt. Gute Beteiligungschancen für ausländische Unternehmen bieten geberfinanzierte Projekte, wobei die Bereiche Infrastruktur (Straße und Schiene), Umwelttechnik (Abwasserbehandlung und Abfallwirtschaft) sowie Energie (Erzeugung, Übertragung und Verteilung) gegenwärtig den Schwerpunkt bilden.

Beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur will Tunesien das Hafenprojekt Enfidha mit einem Investitionsaufwand von 3,2 Mrd. US-Dollar trotz zahlreicher Verzögerungen vorantreiben. Es ist geplant, dass der Hafen in zwei Phasen im Jahr 2030 fertiggestellt wird, wobei die erste Phase drei Jahre nach Baubeginn im Jahr 2023 und die restliche Phase fünf Jahre später erfolgen soll. Die Gesamtkosten der ersten Projektphase werden sich voraussichtlich auf 1,04 Mrd. US-Dollar belaufen, wovon 75 % auf den öffentlichen Sektor und 25 % auf den privaten Sektor entfallen.

Ein weiteres wichtiges Verkehrsprojekt stellt das geplante transmaghrebinische Hochgeschwindigkeitsnetz dar, das als regionales Projekt die wichtigsten Städte der Maghreb-Länder (Casablanca, Algier, Tunis und Tripolis) miteinander verbinden soll. Der tunesische Abschnitt des geplanten Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes, das das Land durchqueren soll, hat eine Gesamtlänge von 840 km. Von der tunesischen Regierung wurden Ende 2021 die Gesamtkosten des Projekts, das in Tunesien in drei Phasen durchgeführt werden soll, auf 9,2 Mrd. US-Dollar geschätzt. Vorangetrieben wird auch der Ausbau des Schnellbahnnetzes in Tunis, dessen erste aus zwei Linien bestehende Phase bereits abgeschlossen wurde. Das Schnellbahnnetz (RFR) wird letztendlich aus fünf Linien mit insgesamt 85 km Länge bestehen. Für die zeitnah beginnende Durchführung der zweiten Phase hat die Afrikanische Entwicklungsbank (ADB) ein Darlehen von 104 Mio. US-Dollar genehmigt.

Große Anstrengungen unternimmt Tunesien für den Ausbau und die Diversifizierung seiner Energiebasis. Nach Angaben von MEED zielt das langfristige Energieprogramm darauf ab, die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bis 2030 auf 35 % zu erhöhen. Dies bedeutet den Bau von Kapazitäten von 1 000 MW im Zeitraum 2017-20 und 1 250 MW im Zeitraum 2021-30. Das Programm steht auch im Einklang mit dem Plan, die CO2-Intensität in allen Sektoren bis zum Beginn des nächsten Jahrzehnts um 41 % zu senken, die Stromverluste zu reduzieren und die Investitionstätigkeit des Privatsektors zu steigern. Gegenwärtig befinden sich fünf Projekte unabhängiger Solarstromerzeuger (IPP) mit einer Gesamtkapazität von 500 MW in der Planung. Dazu gehören die Anlage Metbassta in Kairouan (100 MW), die Anlage Borj Bourguiba in Tataouine (200 MW), die Anlage Tozeur (50 MW), die Anlage Sidi Bouzid (50 MW) und die Anlage Gafsa (100 MW). Der Bau der Photovoltaikanlage in Kairouan steht kurz vor dem Start. Die fünf Projekte werden nach ihrer Fertigstellung 6 % der tunesischen Stromerzeugungskapazität ausmachen. Ferner befinden sich nach Angaben von MEED-Projects in Tunesien weitere 10 Solar- und Windkraftwerksprojekte in der Planungsphase, die insgesamt eine geschätzte Investitionssumme von mehr als 700 Mio. US-Dollar erfordern.

Zur Sicherung einer verbesserten Trinkwasserversorgung plant Tunesien die Inbetriebnahme bzw. den Bau weiterer Entsalzungsanlagen. So wird der Bau der Sidi-Abdelhamid-Meerwasserentsalzungsanlage in der Hafenstadt Sousse im Sommer 2023 abgeschlossen sein. Die Anlage soll in zwei Phasen in Betrieb genommen werden. In der ersten Phase wird die künftige Anlage eine Tageskapazität von 50.000 m³ erreichen. In der zweiten Phase wird die Produktion von Trinkwasser auf 100.000 m³ pro Tag steigen. Das spanische Unternehmen Abengoa liefert die Technologie, die in Zusammenarbeit mit der tunesischen Engineering Procurement & Project Management Co. (EPPM) installiert wird. Im April 2022 wurde mit dem Bau der Meerwasserentsalzungsanlage Sfax begonnen. Das Projekt wird von einem Konsortium ausgeführt, das sich aus dem spanischen Unternehmen Cobra Instalaciones y Servicios, der VAE-Gesellschaft Metito und der ägyptischen Baufirma Orascom Construction zusammensetzt. Die Anlage verfügt über eine Trinkwasserproduktionskapazität von 100.000 m³ pro Tag in der ersten Phase, die in der zweiten Phase verdoppelt werden soll. Das Meerwasserentsalzungsprojekt wird dazu beitragen, das Problem der Wasserknappheit im Gouvernorat Sfax zu lösen und die regelmäßige Wasserversorgung von einer Million Einwohnern bis 2035 sicherzustellen. Finanziert wird das Projekt unter anderem mit einem Kredit der Japan International Cooperation Agency (JICA) in Höhe von etwa 240 Mio. US-Dollar.

Deutschland – wichtiger Wirtschaftspartner Tunesiens

Deutschland ist der drittgrößte Handelspartner Tunesiens. Das bilaterale Handelsvolumen betrug 3,4 Mrd. Euro im Jahr 2021. Deutschland exportiert nach Tunesien in erster Linie Erzeugnisse der Elektrotechnik, chemische Erzeugnisse, Textilien, Maschinen, Kraftfahrzeuge und Kfz-Teile, elektronische Erzeugnisse und Metallwaren. Die wichtigsten deutschen Einfuhrgüter aus Tunesien sind Erzeugnisse der Elektrotechnik, Textilien, Lederwaren, Maschinen; Kfz und -Teile, Waren der Ernährungswirtschaft und Erdöl.

Was die Auslandsinvestitionen in Tunesien anbelangt, so blieben die Zuflüsse vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Unruhen unter ihrem Potenzial. Laut dem Weltinvestitionsbericht 2021 der UNCTAD sanken die Zuflüsse der direkten Auslandsinvestitionen nach Tunesien infolge der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten globalen Wirtschaftskrise von 845 Mio. US-Dollar (2019) auf 652 Mio. US-Dollar (2020), was einem Rückgang von 23 % entspricht. Die wichtigsten Investoren in Tunesien sind die VAE, Frankreich, Katar, Italien und Deutschland. Im verarbeitenden Gewerbe ist Deutschland sogar drittwichtigster Investor, wobei der Bestand deutscher Direktinvestitionen sich 2020 (vorläufig) auf 240 Mio. € belief. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind gegenwärtig rund 260 deutsche Unternehmen in Tunesien aktiv. Sie tragen nicht nur zum Transfer von modernen Technologien und Know-how bei, sondern sie beschäftigen auch ca. 60 000 tunesische Arbeitskräfte vor allem in den Bereichen Kfz- Zulieferindustrie, Elektrotechnik, Maschinen und Anlagen sowie Umwelttechnik. Tunesischen Pressemeldungen vom Oktober 2018 zufolge hatten bis zu diesem Zeitpunkt etwa 29 deutsche Unternehmen im Automobilzulieferersektor investiert, der allein rund 30 000 Arbeitsplätze bietet.

Im wichtigen Bereich der Energieversorgung bestehen ebenfalls gemeinsame Projekte, die unter anderem auch auf der 2012 vereinbarten deutsch-tunesischen Energiepartnerschaft basieren. Der Schwerpunkt dieser Partnerschaft besteht im Ausbau der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Tunesien verfügt aufgrund seiner geografischen Lage über ein großes Potenzial für erneuerbare Energien. Ziel ist der Aufbau eines nachhaltigen, sicheren und erschwinglichen Energieversorgungssystems in Tunesien. Die Aktivitäten der Partnerschaft konzentrieren sich auch auf die Schaffung effektiver und effizienter Energiemarktbedingungen. Durch regelmäßige Treffen des Lenkungsausschusses und der Arbeitsgruppen wurde der Politikdialog zwischen deutschen und tunesischen Entscheidungsträgern institutionalisiert. Der umfassende fachliche Austausch in diesen Gremien hat dazu beigetragen, mit Hilfe der Privatwirtschaft die wirtschaftlichen, rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen des tunesischen Energiemarktes zu verbessern.