Während in Deutschland Fachkräfte fehlen, die die Digitalisierung vorantreiben können, hat das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Rahmen der Sonderinitiative Ausbildung und Beschäftigung ein erfolgreiches Programm der Zusammenarbeit mit tunesischen IT-Firmen entwickelt. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen aus Europa sollen vermehrt auf qualifizierte tunesische IT-Expertinnen und -Experten zurückgreifen können. Das schafft gute Jobs und führt zu neuem Wachstum in Tunesien.

Tunesien ist vielen als attraktives Urlaubsland bekannt: Kilometerlange Strände, das Amphitheater in El Jem oder die tunesische Sahara – ein Land wie aus dem Katalog. Weniger bekannt ist, dass sich Tunesien inzwischen zu einem nordafrikanischen Power House entwickelt hat. Besucherinnen und Besucher sind beeindruckt von den technischen Standards und der Qualität der Fachkräfte im IT-Bereich. Im digitalen Innovationhubs “The Dot” in Tunis entstehen beispielsweise auf rund 3.000 Quadratmetern nahezu täglich neue Technologielösungen. Im Fokus stehen unter anderem Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz und Industrie 4.0.

Tunesien: Nordafrikas Tech-Champion beschleunigt deutsche Digitalisierung

In Tunesien trägt die digitale Wirtschaft schon rund elf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und ist die am schnellsten wachsende Branche des Landes. Mehr als 1.600 Unternehmen beschäftigen über 100.000 hochqualifizierte IT-Fachkräfte. Und der Nachschub steht auch schon bereit: Jedes Jahr schließen 10.000 tunesische IT-Ingenieurinnen und -Ingenieure die Universität ab. Im Vergleich zu Deutschland wächst die Zahl hervorragend ausgebildeter IT-Fachkräfte nicht nur, sie wird auch diverser. In Tunesien sind aktuell 61 Prozent der Studierenden in technischen Studiengängen weiblich. Zum Vergleich: Vor der Pandemie waren in Deutschland weniger als zwanzig Prozent Frauen in deutschen IT-Studiengängen akkreditiert.

Einige deutsche Unternehmen haben bereits verstanden, welche Chance für sie darin liegt:

Tunis ist nur zwei bis drei Flugstunden von deutschen Metropolen wie Frankfurt oder München entfernt und seit Jahren eng mit Europas Wirtschaft vernetzt. Tunesien bietet zudem ein unternehmerfreundliches regulatorisches Klima. Das digitale Wachstum schreitet stetig weiter voran. Beim Datenschutz folgt Tunesien der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und bietet Unternehmen somit Sicherheit für Investitionen. Kein Wunder, dass das Auslagern von Dienstleistungen nach Tunesien im IT-Bereich -im Branchenjargon „outsourcing“ genannt- immer attraktiver wird.

Hinzu kommt: Während in vielen Ländern der Welt steigende Lohnkosten für das Outsourcing und geopolitische Spannungen den Zugang zu IT-Expertinnen und Experten erschweren, sind in Tunesien hingegen sowohl der Zugang als auch die Preise in den vergangenen Jahren stabil geblieben.

Wohl schreitet die Digitalisierung in Deutschland voran. Der Deutsche Digitalisierungsindex 2021 des BMWK, der anhand von 37 Indikatoren den Digitalisierungsstand der Wirtschaft in Deutschland misst, stieg seit der Nullmessung in 2020 von 100 Punkten in nur 12 Monaten auf 108 Punkte. Dazu hat auch die Covid-Krise beigetragen. Achim Berg, der Präsident des deutschen IT-Verbandes Bitkom, bestätigt, dass Digitalisierung Unternehmen krisenfest macht. Laut Bitkom habe rund jedes zweite Unternehmen während der Corona-Pandemie die Digitalisierung des eigenen Geschäftsmodells beschleunigt.

Wenn auch die Digitalisierung in Deutschland weiter Fahrt aufnimmt – es bleiben Hindernisse: Neben unzureichender Zukunftsinvestitionen und Angst vor Datenschutzproblemen bremst vor allem der Fachkräftemangel die Digitalisierung aus. 64 Prozent aller Unternehmen haben laut Bitkom-Umfrage keinen Zugang zu qualifiziertem Personal. IT-Spezialistinnen und Spezialisten sind Mangelware in Deutschland. Laut IHK sind derzeit mehr als 124.000 Stellen unbesetzt.

Alternative Strategien gegen den IT-Fachkräftemangel

Weil sie nicht länger warten wollen, lagern zahlreiche Unternehmen IT-Dienstleistungen aus. Für Großkonzerne ist es bereits Routine – mehr als 90 Prozent aller G2000 Unternehmen (2000 größten börsenorientierten Unternehmen der Welt) haben in den vergangenen fünf Jahren regelmäßig in Form von IT-Outsourcing internationale IT-Fachkräfte eingebunden. Doch im Mittelstand ist es oft noch die Ausnahme. Dabei bietet IT-Outsourcing erhebliche Vorteile.

Agilität durch smartes IT-Outsourcing

Während die Kosteneinsparung vor einigen Jahren noch das treibende Motiv für Outsourcing war, nimmt nun die Optimierung von Prozessen eine immer stärkere Rolle ein. Durch smartes IT-Outsourcing sind Unternehmen agiler in ihrer Ressourcenplanung und können IT-Projekte beliebiger skalieren. Digitalisierungsprojekte können beispielsweise schnell umgesetzt werden, ohne dass der Personalmangel sie verzögert. Denn outgesourct werden nicht mehr nur Standardaufgaben wie Callcenter.

Im Ausland sind hoch qualifizierte IT-Fachkräfte oft zu einem wettbewerbsfähigen Preis-Leistungs-Verhältnis zu finden. Dazu zählen Data Scientists, Cyber Security Experten oder auch KI-Spezialisten. Ein positiver Nebeneffekt ist der Zugang zu neuen Märkten. Outsourcing öffnet auch Expansionsmöglichkeiten für deutsche und europäische Unternehmen.

Zu den bereits gängigen Outsourcing-Destinationen zählen Osteuropa, Indien und Portugal. Doch zunehmend versprechen die Digitalhubs in Nordafrika krisensicheres IT-Outsourcing.

Tech216: Mittler zwischen den Welten

Eigentlich eine einfache Rechnung: Deutsche Unternehmen vergeben Aufträge an in Tunesien ansässige IT-Dienstleister mit gut ausgebildeten IT-Fachkräften, die in Deutschland fehlen. Gleichzeitig werden die nordafrikanischen Unternehmen wirtschaftlich attraktive Wachstumspartner für die Unternehmen in Europa. Doch das Prinzip des IT-Outsourcings ist insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) noch weitestgehend unbekannt und daher ungenutzt. Dabei müssen gerade die KMU besonders dringend digitalisieren, um national wie international keine Wettbewerbsnachteile zu erleiden. Hier soll das Projekt Tech216 behilflich sein.

Tech216 fördert die Zusammenarbeit zwischen europäischen Unternehmen und tunesischen IT-Firmen und -Talenten, indem sie als zentrale Anlaufstelle für Kooperationen verschiedene Beratungs- und Serviceleistungen bietet. Durch die neuen Kooperationen werden in Tunesien gute und nachhaltige Arbeitsplätze geschaffen. Tech216 ist ein Projekt im Rahmen der Sonderinitiative Ausbildung und Beschäftigung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und wird von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH umgesetzt.

Tech216 macht den IT-Standort Tunesien für deutsche und europäische Firmen zugänglich. Beispiel BMW: Das Automobilunternehmen war 2020 der Pilotpartner der Initiative. „Durch Tech216 konnten wir schnell Kontakt zu potenziellen Lieferanten in Tunesien aufbauen. Wir haben dafür an einer ‚Discovery Tour‘ in der Hauptstadt Tunis teilgenommen, um einen Überblick über den lokalen Lieferantenmarkt zu erhalten“, resümiert Dr. Andreas Bootz, Leiter des Bereichs Systemgestaltung und Integration bei der BMW Group. „Seither haben wir mehrere IT-Projekte mit tunesischen Lieferanten erfolgreich abgeschlossen und konnten damit auch fertige Produkte umsetzen.“ Pilotprojekte zwischen der BMW Group und zwei tunesischen IT-Dienstleistern laufen seit Frühjahr 2020.

Grundsätzlich haben viele IT-Unternehmen in Tunesien bereits etablierte Lieferantenbeziehungen zu anderen europäischen Konzernen. Die Sprachbarriere ist gering und die hohen Standards für die Zusammenarbeit, zum Beispiel zur Datensicherheit, werden von Lieferanten bereits vorab erfüllt. Zudem wird in Tunesien an Zukunftsthemen gearbeitet.

Mit Blick auf die wachsende Zahl jährlicher Universitätsabschlüsse im IT-Bereich betont Dr. Andreas Bootz: „Das ist ein enormes Potenzial an jungen und gut ausgebildeten Fachkräften, das auch neue Kompetenzfelder einschließt. Während unserer ‚Discovery Tour‘ konnten wir neben etablierten Unternehmen auch fünf innovative Start-ups kennenlernen, die unter anderem mit Künstlicher Intelligenz (KI) in den internationalen Wettbewerb eintreten. Es geht also nicht nur um die Entwicklung von Standard-Apps.“